Arnulf Krause:

Die wirkliche Mittelerde

Rezension von Mirko Gründer

Der Autor des „Hobbit“ und des „Herrn der Ringe“ J. R. R. Tolkien war Experte für nordische Mythologie. Arnulf Krauses „Die wirkliche Mittelerde“ zeigt, dass die alten Heldenlieder der Germanen und Skandinavier die Grundlage von Tolkiens Welt bilden.

Tolkien nahm viele Anregungen aus der nordischen Mythologie. Am engsten sind die Zwerge Mittelerdes an ihre mythologischen Vorbilder angelehnt.

Tolkien nahm viele Anregungen aus der nordischen Mythologie. Am engsten sind die Zwerge Mittelerdes an ihre mythologischen Vorbilder angelehnt.

John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973) ist heute weltberühmt und gilt als Begründer einer eigenen Literaturgattung, der Fantasy. Das ist eher ungewöhnlich für einen Mann seines Berufsstands. Tolkien war Professor für Altenglische Sprache und Literatur – das gilt gemeinhin zu Recht als staubtrockene und weltferne Profession.

Doch dieser Professor mitten im altehrwürdigen Oxford hatte ein verrücktes Hobby: Er bastelte Fantasiesprachen. Und weil eine Sprache ohne Kultur, Geschichte und Mythologie ein lebloses Konstrukt ist, schuf Tolkien ein ganzes Universum für sein Hobby. Der Stoff, aus dem er seine Welt schuf, stammte aus seinem Fachgebiet. Oder, mit Tolkiens eigenen Worten: „Schauplatz meiner Erzählung ist diese Erde, dieselbe, auf der nun wir leben, aber die historische Periode ist imaginär.“

Diesem Stoff, aus dem Tolkien Mittelerde formte, widmet sich ein Buch, das pünktlich zur Hobbit-Verfilmung Peter Jacksons im Theiss-Verlag erschienen ist. Der Bonner Germanist und Skandinavist Arnulf Krause zeigt in „Die wirkliche Mittelerde“, wie die alten Überlieferungen der Germanen und Skandinavier die Grundlage von Tolkiens Welt bildeten.

Midgard ist Mittelerde

Der Anfang steckte in einem altenglischen Gedicht. „Heil Earendel, Strahlendster der Engel, über Mittelerde den Menschen gesandt“, schrieb der Dichter Cynewulf im 9. Jahrhundert.

Arnulf Krause:
Die wirkliche Mittelerde. Tolkiens Mythologie und ihre Wurzeln im Mittelalter

Theiss-Verlag, Stuttgart 2012
232 Seiten
19,95 €

Arnulf Krause: Die wirkliche Mittelerde

(Bildnachweis: Konrad Theiss Verlag, mit freundlicher Genehmigung)

Der gerade 20jährige Tolkien war fasziniert von dieser Zeile. Um den Namen Eärendil baute er seine ersten Geschichten der Elbenmythologie, die noch im „Herrn der Ringe“ ihre Spuren hinterlassen. Und „Mittelerde“ – im Original „middangeard“ oder eben „Midgard“ – wurde der Name, den er seiner Fantasiewelt gab. Es waren die ersten Bausteine eines Kunstwerks, an dem er sein ganzes Leben feilte. Jedes Abtauchen in die alten Texte der nordischen Dichter brachte weitere Impulse.

Tolkiens Hauptinteresse als Forscher galt den altgermanischen Texten und den skandinavischen Überlieferungen. Vom angelsächsischen „Beowulf“-Epos über die isländischen Götter- und Heldengesänge der Edda bis zum germanischen Hildebrandslied war er mit der gesamten Tradition vertraut. Zum nordischen Sagenkreis um den Drachentöter Sigurd – den Siegfried des deutschen Nibelungenlieds – schrieb er sogar eine Nachdichtung, die sein Sohn Christopher 2009 posthum herausgab.

Von Zwergen…

Arnulf Krause arbeitet in seinem Buch systematisch die Wesen Mittelerdes durch und klopft sie auf Bezüge zur alten Literatur Nordeuropas ab. Von den vielfältigen Wesen, die Tolkiens Mittelerde bevölkern, können die Zwerge am wenigsten ihren Ursprung in der nordischen Mythologie verbergen. Die kleinwüchsigen mürrischen Kerle haben stets eine besonders innige Verbindung zur Erde. Sie leben unterirdisch, gelten als gute Bergleute und sind herausragend darin, Erz und Gestein zu formen.

Ob Edda, Nibelungenlied oder uralter Volksglaube – überall entsprechen die Zwerge diesem Bild. Tolkien übernahm es praktisch ohne Änderungen in sein Universum, und er ging sogar noch weiter: Selbst die Namen einiger seiner bekanntesten Zwerge sind direkt der Älteren Edda entnommen: Thorin, Dwalin, Bifur, Bombur, Nori, Kili und Fili. Und auch die Gier nach Schätzen haben Tolkiens Zwerge mit ihren nordischen Vorbildern um Alberich und Laurin gemeinsam.

… und Elben

Weniger eindeutig ist die Lage bei Tolkiens erklärtem Lieblingsvolk, den Elben. Nordische und keltische Legenden kennen eine Vielzahl von Wesen, die dem Namen oder Charakterzügen nach bei Tolkiens Elben Pate gestanden haben könnten. Klar ist nur, womit sie nichts zu tun haben: Mit jenen Elfen oder Feen, die als niedliche geflügelte Winzlinge seit dem 18. Jahrhundert durch die Populärkultur flattern und in Peter Pans Freundin Tinkerbell ihre prominenteste Vertreterin gefunden haben. Für sie hatte Tolkien wenig Sympathien.

In den alten germanischen und skandinavischen Sagenkreisen sind die Alben oder Alfr übernatürliche Wesen, die über magische Macht verfügen und diese sehr unterschiedlich einsetzen. Einerseits werden sie als überirdisch schön beschrieben, andererseits leiten sich Worte wie „Albtraum“ von ihnen ab. Deutlich ist jedoch allen Überlieferungen, dass die Alben der Mythologie den Menschen fremd waren und nach ihren eigenen Regeln lebten – oft in entrückten Reichen, die Menschen nur unter Mühen erreichen konnten und in denen die Naturgesetze nicht galten.

Der Lindwurm Fafnir, den der Held Sigur im skandinavischen Mythos erlegt, darf als direktes Vorbild für Tolkiens Drachen Smaug gelten.

Der Lindwurm Fafnir, den der Held Sigur im skandinavischen Mythos erlegt, darf als direktes Vorbild für Tolkiens Drachen Smaug gelten.

Tolkiens Elben teilen mit den Alben der Überlieferung vor allem diese Weltabgewandtheit. Sie sind melancholische, fast ätherische Wesen von großer Schönheit und Reinheit, die des Treibens der Welt müde geworden sind. Konsequenterweise ziehen sie sich mehr und mehr zurück und gehen über das Meer nach Westen. Mit ihnen verschwindet – der Schluss des „Herrn der Ringe“ schildert es – die Magie fast vollständig aus Mittelerde. Zurück bleibt laut Tolkien das entzauberte Land, das wir heute kennen.

Von Drachen und Hobbits

Drachen zählen zu den weltweit verbreitetsten Fabelwesen. Sie haben sehr verschiedene Gestalten und Wesenszüge, werden gemeinhin jedoch für mächtige magische Wesen von großer Klugheit gehalten. Die nordische Mythologie kennt sie vor allem als „wyrm“, den Lindwurm. Im Beowulf-Epos und dem Sigurd-Sagenkreis spielen sie eine große Rolle. Insbesondere der Drache Fafnir, der auf seinem Zwergenschatz liegt und mit Sigurd vor seinem Tod ein langes Gespräch führt, kann als Vorbild für Smaug gelten, gegen den der Hobbit Bilbo und seine Zwergenfreunde in Tolkiens Buch ins Feld ziehen.

Arnulf Krauses Buch hilft zu verstehen, wieso westeuropäischen Lesern die Fantasiewelt von Mittelerde trotz aller Fremdheit so vertraut erscheint. Er zeigt, wie Tolkien sich aus dem Fundus der nordeuropäischen Legenden und Volkssagen, der eine der ältesten Quellen westlicher Kultur darstellt, eine neue Welt erschuf und sie mit neuen Geschichten füllte. Das Buch geht den Quellen auf den Grund. Eine Erklärung für Tolkiens Werk und dessen Popularität kann und will es nicht liefern. Denn trotz aller Quellen war es die überschäumende, fast kindliche Kreativität des Professors aus Oxford, die alle Bausteine neu zusammenfügte und mit eigenen Ideen ergänzte. Die Hobbits, die im Zentrum seiner bekanntesten Geschichten stehen, sind jedenfalls ganz und gar seine Erfindung.

Lesetipps zum Thema

Webtipps:

Literaturtipps:

  • J. R. R. Tolkien: Das Silmarillion, Hrsg. von Christopher Tolkien, Stuttgart 1978.

  • J. R. R. Tolkien: The History of Middle-Earth, 13 Bde., Hrsg. von Christopher Tolkien, London 1983-2002. (englisch)

  • Oliver D. Bidlo: Mythos Mittelerde – Über Hobbits, Helden und Geschichte in Tolkiens Welt, Essen 2002.

  • Rudolf Simek: Mittelerde – Tolkien und die germanische Mythologie, München 2005.

  • Humphrey Carpenter: J. R. R. Tolkien – Eine Biographie, Stuttgart 1979.